"Vollkorn? Nein, danke."

WARUM WIR SO VIELE WEISSMEHLPRODUKTE ESSEN

Alle führenden Gesundheits- und Ernährungsgesellschaften empfehlen den Verzehr von Vollkorn- anstelle von Weißmehlprodukten. Sie sind nährstoffreicher und weisen einen höheren Gehalt an Ballaststoffen auf. Studien belegen zudem, dass Vollkorngetreide das Risiko für Herz-Kreislauf- und Stoffwechselerkrankungen senken kann. Warum sind Weißmehlprodukte trotzdem so weit verbreitet bzw. wieso ist die Vollkornvariante hierzulande eher unterrepräsentiert?

DAS GETREIDE (VOLL)KORN

Bevor wir dieser Frage nachgehen, sollten wir zunächst klären, was Vollkorn eigentlich bedeutet. Dazu werfen wir einen Blick auf die Bestandteile eines Getreidekorns mitsamt seiner Nährstoffzusammensetzung:

Die Zusammensetzung eines Getreidekorns

Den Hauptanteil eines Getreidekorns – unabhängig um welche Getreidesorte es sich handelt – nimmt mengenmäßig mit etwa 80 % der Mehlkörper ein. Dieser besteht überwiegend aus Stärke und ist im Vergleich zu den anderen Bestandteilen verhältnismäßig nährstoffarm. (Das ist übrigens der ausschließliche Teil, aus dem Weißmehl hergestellt wird – dazu unten mehr.) Die restlichen 20 % sind die eigentlichen Nährstoffbomben und betreffen den Keimling und die Randschichten bzw. Schalen. Der Keimling punktet mit mehrfach ungesättigten Fettsäuren, die Randschichten mit einer Kombination aus B-Vitaminen, Vitamin K und Beta-Carotin sowie Kalium, Phosphat, Kalzium und Magnesium.

Der Keimling und die Randschichten bilden zusammen die sogenannte Kleie. Insbesondere Hafer- und Weizenkleie werden gerne bei Verstopfung empfohlen, um den Darm ordentlich anzuregen. Der Grund: Sie sind reich an Ballaststoffen – und damit wären wir auch schon bei diesem Thema.

KLEINER EXKURS: BALLASTSTOFFE

Ballaststoffe sind für uns Menschen überwiegend unverdauliche Nahrungsbestandteile, die wir zum größten Teil über pflanzliche Lebensmittel – wie eben Vollkorngetreide – zu uns nehmen. Zur Aufspaltung der Ballaststoffe bedarf es entsprechende Enzyme, die im menschlichen Magen-Darm-Trakt fehlen. So gelangen sie unverdaut in den Dickdarm und dienen unserer Darmflora – auch bekannt als Mikrobiom – als Nahrung.

Während die Pflanzen die Ballaststoffe für ihre Struktur und als Stütze für ihre Zellen nutzen, kann der Mensch von der Unverdaulichkeit profitieren: Denn die Ballaststoffe im Dickdarm verändern die Stuhlbeschaffenheit und die Zusammensetzung unseres Mikrobioms positiv.

Studien belegen: Eine ballaststoffreiche Kost kann präventiv vor zahlreichen Zivilisationskrankheiten – wie Diabetes mellitus Typ 2, Herz-Kreislauferkrankungen, Gallen- und Nierensteine – sowie vor Darmkrebs schützen. Aber auch gegen Karies und Verstopfung sind Ballaststoffe ein wirksames Mittel. Kein Wunder also, dass die führenden Ernährungsgesellschaften eine Ballaststoffzufuhr – über den Verzehr von Vollkorngetreide, Hülsenfrüchte, Obst und Gemüse – von mindestens 30 g pro Tag empfehlen. Laut den Daten der Nationalen Verzehrstudie II erreichen jedoch etwa 68 % der Männer und 75 % der Frauen diese Zufuhrempfehlung NICHT.

DIE LEBENSMITTEL INDUSTRIE UND IHR EINFLUSS AUF UNSER KONSUMVERHALTEN

Zurück zum Getreide(voll)korn: Bei der Weiterverarbeitung des Getreidekorns zum Beispiel zu Mehl wird das volle Korn von seinen äußeren Schalen und dem darunterliegenden Keimling getrennt, um ein sogenanntes Auszugsmehl – besser bekannt als Weißmehl – zu erhalten. Dieses Mehl ist entsprechend deutlich nährstoffärmer als sein Ausgangsprodukt. Aber warum trennt die Lebensmittelindustrie überhaupt den Keimling samt der Randschichten vom Mehlkörper? Sie könnte auch stets das ganze Korn zu Mehl verarbeiten, um nährstoffreicheres Vollkornmehl zu erhalten.

GUT ZU WISSEN: Vollkornmehl lässt sich übrigens gut daran erkennen, dass es kleine braune Fasern enthält. Hierbei handelt es sich um die oben genannten, klein gemahlenen Randschichten bzw. Schalen. Sie sind auch der Grund dafür, warum Kuchenteig, Brot, Nudeln & Co. aus Vollkorn dunkler sind als ihre Weißmehl-Versionen.

Dies führt uns auch zur Ausgangsfrage zurück: Warum greifen wir in unserem Alltag wesentlich öfters zu nährstoffarmen Weißmehlprodukten bzw. wieso ist die gesunde Vollkorn-Alternative im Supermarktregal eher unterrepräsentiert?

Des Rätsels Lösung: Die Randschichten, insbesondere aber der fettreiche Keimling werden schnell ranzig – ein Umstand, den die Lebensmittelindustrie vor Probleme stellt. Bereits zu Zeiten der Industrialisierung wurden zur Verlängerung der Haltbarkeit diese Teile des Korns daher entfernt. So wurde aus vollwertigem Getreide Weißmehl, das für lange Zeit haltbar, aber leider wesentlich nährstoffärmer war. Parallel war die Herstellung solcher Auszugsmehle zur damaligen Zeit noch recht neu und mit technischen Herausforderungen verbunden. Dies spiegelte sich entsprechend im Verkaufspreis wider: So war das nährstoffärmere Weißmehl ursprünglich sogar teurer als das Mehl aus ganzen Körnern. Dieser Umstand machte das Auszugsmehl zu einer Art Statussymbol, das sich nur gewisse Bevölkerungsschichten leisten konnten. Hinzu kam, dass lange Zeit Weißmehl als die gesündere Variante galt – Danke, Werbeindustrie – und die Beliebtheit entsprechend weiter stieg.

Inzwischen ist aus dem damaligen Statussymbol der Oberschicht ein günstiges Massenprodukt geworden, welches aus einem normalen Haushalt nicht mehr wegzudenken ist. Die nachfolgende Grafik zeigt, wie stark der Verzehr von Vollkorngetreide zugunsten von Weißmehlprodukten seit 1750 in Deutschland zurückgegangen ist:

Die Entwicklung des Verzehrs an Vollkorngetreide in Deutschland von 1750 bis 2015

Die Durchschnittbevölkerung in Deutschland hat im Jahr 1750 Getreide zu 95 % als Vollkornvariante verzehrt, während Weißmehlprodukte aufgrund des höheren Preises nur einen sehr kleinen Teil des täglichen Konsums ausmachten. Bis heute hat sich dieses Konsumverhalten fast umgekehrt und der Anteil des verzehrten Weißmehls hat beinahe den damaligen Wert des Vollkorngetreideverzehrs erreicht.

VOLLKORN - DIE BESSERE WAHL

Noch einmal zusammengefasst: Jedes Getreidekorn – egal ob vom Weizen, Roggen, Dinkel, Hafer & Co. – ist ähnlich aufgebaut. Und nur mit dem Verzehr des vollen Korns nehmen wir alle enthaltenen Vitamine, Mineralien und Ballaststoffe auf. Folglich ist es für die Beurteilung eines Lebensmittels hinsichtlich seines gesundheitlichen Nutzens aus ernährungsphysiologischer Sicht im ersten Schritt uninteressant, um welche Getreidesorte es sich handelt, sondern es ist viel entscheidender, ob es sich um ein Vollkorn- oder Weißmehlprodukt handelt. Gesundheitsbewusste Menschen greifen daher erfreulicherweise wieder vermehrt zu Vollkornbrot, Vollkornmüsli, Vollkornnudeln, Naturreis & Co. und profitieren von dessen präventiven Wirkung gegenüber den vorherrschenden Zivilisationskrankheiten.

Mit dem heutigen Wissen über die gesundheitlichen Vorzüge und der durchgehenden Verfügbarkeit frischer Ware gibt es eigentlich keinen Grund mehr, nicht auf die Vollkornvariante zurückzugreifen. Das Angebot im Supermarkt bzw. beim Bäcker ist mancherorts vielleicht (noch) verhältnismäßig übersichtlich, aber bekanntermaßen bestimmt die Nachfrage das Angebot. Von daher haben wir es selbst in der Hand, die Entwicklung des Verzehrs an Vollkorngetreide wieder in eine positive Richtung zu lenken. Ein simpler Austausch des Produkts derselben Produktfamilie (sprich Vollkornnudeln statt „normale“ Nudeln, Vollkornbrot statt Weißbrot, Naturreis statt weißer Reis etc.) kann gesundheitlich schon viel bewirken, ohne dass wir uns in unserer Alltagsküche groß verändern müssten. Also: Gib dem Vollkorn eine Chance!

ABER AUFGEPASST: Vielfach wird leider fälschlicherweise angenommen (und von einigen Bäckereifachverkäufer:Innen vehement behauptet), Roggenbrot sei automatisch Vollkorn. Das weißt Du ab sofort besser – denn auch das volle Roggenkorn kann zuvor von seinen nährstoffreichen Bestandteilen getrennt, gemahlen und dann zu Brot weiterverarbeitet worden sein. Oftmals wird unter das vermeindlich gesunde Brot auch Gerstenmalz gemischt, damit es eine dunklere Farbe und damit den Anschein eines vollwertigen Brotes bekommt.
Ebenso lohnt sich stets ein Blick auf die Zutatenliste von verpackten Lebensmitteln zu werfen, wie beispielsweise bei Dinkelnudeln: Hältst Du hier wirklich Dinkel“vollkorn“nudeln in den Händen?

MERKE: Nur wo Vollkorn drauf steht, ist auch Vollkorn drin!

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Sauerteig Vollkornbrot

Quellen:

  • N. Rittenau | Vegan-Klischee ade! Wissenschaftliche Antworten auf kritische Fragen zu veganer Ernährung | 2020 | S. 240 ff.
  • F. Marotti | Vegetarian and Plant-Based Diets in Health and Disease Prevention | 2017 | S. 250
  • K. von Koerber, T. Männle, C. Leitzmann | Vollwert-Ernährung – Konzeption einer zeitgemäßen und nachhaltigen Ernährung | 2012 | S. 33, 239, 245
  • Max Rubner-Institut – Bundesforschungsinstitut für Ernährung und Lebensmittel | Nationale Verzehrstudie II: Die bundesweite Befragung zur Ernährung – Ergebnisbericht, Teil 2 | 2008 | https://bit.ly/3lMYVMF